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AutorenbildIngo Klarenbach

Die große Unbekannte: Der Faktor Mensch

Ingenieure waren nie berühmt für ihre Sozialkompetenz und Sensibilität. Sie denken geradlinig und in logischen Strukturen. Die geforderten "Soft Skills" fehlen oft und entsprechende Lehrangebote werden nur vereinzelt an den Hochschulen angeboten. Noch ist es die Ausnahme, wenn sich ein Akademiker auch für Verhalten und innere Vorgänge vom Menschen interessiert und seine Erkenntnisse durch seine Arbeit zum Ausdruck bringt. Und doch ist diese spannende Kombination zu meiner Berufung geworden.


Während des Hochschulstudiums gehen letzte natürliche Empfindungen und Impulse verloren durch lineares Denken und mentalen Input, welche den künftigen Leistungsträgern eine Identität und Souveränität durch Wissen suggerieren, ohne jedoch eine ganzheitliche Basis zu schaffen. Doch jeder Beruf hat mit Menschen zu tun und Menschen lassen sich weder kategorisieren, noch berechnen - ihre Interaktionen und Dynamiken müssen ebenfalls verstanden und verinnerlicht werden, möchte man ein wahrhaft erfüllendes Arbeitsleben haben. In unserer leistungsorientierten Arbeitswelt beschreiben Schlagwörter wie Führungsvermögen, Teamfähigkeit oder Empathie die tatsächlichen Vorgänge in und zwischen den Individuen nur teilweise. Meist gewinnen am Ende Zeit, Termine, Budget und Gewinn gegen das gesunde Betriebsklima. Unsere urmenschliche Natur folgt auf Dauer aber, wie alles auf der Welt, übergeordneten nicht linearen Rhythmen und Zyklen.


Arbeiten in unternehmensweiten Projekten


Als ERP- und PPS-Projektleiter arbeite ich seit über 18 Jahren im Wesentlichen mit Menschen, denn ich stehe im ständigen Austausch mit Geschäftsleitung, Führungskräften, Produktion, Fachabteilungen und anderen externen Beratern. Zu meinen Aufgaben gehören Interviews, Workshops und Schulungen mit nahezu allen Mitarbeitern eines Unternehmens. Innerhalb kurzer Zeit bekomme ich Kenntnis über die Unternehmensprozesse und Organisation, den Informationsfluss und natürlich auch das Betriebsklima. ERP-Einführungen erfordern Veränderungen der Geschäftsprozesse und Organisation, was auf jeden Mitarbeiter Einfluss nimmt und daher weitaus mehr Faktoren umfasst, als handelsübliche Prozesshandbücher bislang beschreiben.


Fachliche und zwischenmenschliche Anforderungen


Von Beginn meiner Laufbahn an war ich also gefordert, mit den Beteiligten, ihren Wünschen und Vorstellungen, aber auch ihren Emotionen und Strategien umzugehen. Und erst recht mit meinen eigenen Gedanken und Reaktionen, die ich in der Intensität noch nicht kannte. Mein größtes Problem stellten dabei Erwartungen dar – die offenen und die unausgesprochenen, undefinierten Erwartungen anderer und noch lange Zeit unbewusst, meine Erwartungen an mich, mein Selbstbild. Die Frage „Wie gehe ich als Führungskraft mit meiner Wahrnehmung und den Gefühlen um?“ stellte ich mir bald. Selbstzweifel und Ängste meldeten sich.

Mir wurde bewusst, dass sehr viele Menschen eine „Maske“ tragen, unter der sie in Wahrheit ganz anders sind. Davon konnte ich mich selbst nicht ausschließen, denn die Hintergründe und Absichten beeinflussen tatsächlich in enormem Maße das Leben jedes Einzelnen. Bemerkungen und Handlungen können auf das wirkliche Verhalten und die Bedürfnisse eines Mitarbeiters hinweisen, doch welches tatsächliche Interesse verfolgt er und was ist ihm dabei wichtig, mit wem habe ich es da wirklich zu tun? Mein Diplom half mir nicht weiter in diesem Dilemma aus Erwartungen, Ängsten, Enttäuschung, Konflikten, Ablehnung und Win-Loose Situationen.


Der Wendepunkt für die eigene Veränderung


Doch ich hatte zu funktionieren im Sinne des Geschäftserfolges. Kompensation ist häufig schlechtes und übermäßiges Essen, erhöhter Kaffeekonsum, Alkohol und Rauchen, aber auch Sport und Hobbies im Übermaß. Wir suchen nach Ausgleich und Stressabbau, aber der Körper ist ohnehin schon angespannt und im Alarmzustand. Eine Trennung zwischen Privat und Arbeit ist unmöglich. Und das nächste Meeting drückt den „roten Knopf“, den garantiert jemand findet. Und für mich erwiesen sich derartige Versuche als keine unterstützende Lösung, denn im Gegensatz zu meinem Verstand ließ mein Körper sich nicht dauerhaft betäuben. Erst durch meine stetige Selbst-Entwicklung über den Einstieg ins Coaching habe ich über die Jahre ein klareres Verständnis für die umfassende Auswirkung meiner Tätigkeit im Ganzen bekommen, die ein ganz anderes Maß an Verantwortung und Achtsamkeit mit sich brachte.

Auf dem Weg dorthin musste ich zunächst feststellen, dass der Coach die erste richtige Wahl war, denn einige Anläufe erwiesen sich als Sackgasse; mein Ego war enorm gestärkt und beflügelt worden, wodurch meine Arroganz und Überheblichkeit jedoch eine völlig gegensätzliche Entwicklung meiner Welt erzeugt hatten, in der ich bald als Einzelkämpfer unterwegs war. Aber offenbar war es für mich ebenso wichtig zu lernen, was nicht funktionierte auf meinem Weg aus meinem Dilemma hin zu einem gesunden Selbstbewusstsein und Selbstwert.


Der Weg über Gefühle


Die Coaching Ausbildung begann mit Sitzungsgesprächen über ein frei gewähltes eigenes Thema. Ich sollte berichten von Situationen und meinen Gefühlen. „Gefühle?? - Ja, ich möchte wissen, was du fühlst, nicht was du denkst!“ Hier genügte keine Erklärung eines Prozessbildes oder Funktionsbeschreibung. Es fiel mir leichter über ein Thema zu reden, als darauf einzugehen und beschreiben, was in mir passierte. Dies verlangte eine Selbstanschauung und Öffnung in einem Maße, welches ich nicht kannte und mir auch die Worte fehlten. Doch die nach und nach eingetretenen Veränderungen meiner Wahrnehmung und meinem Umgang mit Empfindungen und Körperreaktionen waren für mich so interessant und spannend, zumal sich zeigte, dass ich dafür bewusst nichts „tun“ musste, wie ich es gewohnt war, sondern es eher aus einem tief-inneren Vertrauen heraus geschah.


Erfolg neu definiert


Mein Beruf erwies sich dabei als sehr hilfreich, denn einerseits hielt er mich auf dem „Boden der Tatsachen“, zum anderen war es ein breites Feld mich zu erfahren und Erkenntnisse zu verinnerlichen, Verhaltensmuster und Gesetzmäßigkeiten verstehen zu lernen und aufgrund dieser erweiterten Sichtweise bewusste neue Entscheidungen zu treffen, die phänomenale Veränderungen in mein Leben brachten. Ich konnte aufhören zu Pushen und darauf vertrauen, dass alles, was benötigt wurde, bereits an Ort und Stelle war. Dies wollte nur noch gefunden, verwendet oder entsprechend ausgearbeitet werden. Aber „Wir sehen nur, was wir sehen wollen, hören nur, was wir hören wollen“, d.h. eine Art Innere Führung bestimmt über die Auswahl. Es bezieht sich also nicht nur auf physische Objekte, sondern gleichsam auf unbewusste, psychische Inhalte des Menschen.

Immer mehr zeigten sich Erfolge in der Arbeit. Der Begriff Erfolg bekam jedoch eine neue Definition. Menschen um mich herum verhielten sich anders, weil ich einfach anders geworden war. Einmal gab mir eine Kollegin das offene Feedback: „Weißt du Ingo, früher warst du ein richtig fieses A...“ - zu der Zeit kam sie nun aber wiederholt in meine eigenen Coaching Sitzungen, um mit mir über ihre persönlichen Themen zu sprechen. Welch ein Beweis von Vertrauen!

Mein bisheriges Projektmanagement aus Delegation, Forderungen und Druck wechselten zu klärendem Nachfragen, Verständnis und Erkennen des tatsächlichen Bedarfs zur Erreichung von Zielen, häufig mit unerwartet wertvollen Nebeneffekten für die Zielerreichung und den Erfolg aller Beteiligten. In einem Meeting beispielsweise vergaßen Kollegen ihre Aggressionen und Abwehr gegeneinander und unterstützten sich gegenseitig. Ohne auch nur einen Hinweis von mir, es wurde möglich durch meine veränderte Ausstrahlung. Offener Austausch und Zusammenarbeit im gesamten Team war plötzlich möglich. Meine „Führung“ bestand nun auch darin, Mitarbeiter bei Defiziten zu schulen, ohne, dass sie es als Schulung empfanden. Ich hielt denjenigen ganz einfach in derselben Wertigkeit, wie mich selbst, wissend, dass wir unter unserer Maske jemand ganz anderes sind. Und auch, wenn ich nicht helfen konnte durch mein Fachwissen, so war es doch für den Mitarbeiter ein entspannendes Gefühl von verstanden werden, wodurch er seinen Selbstschutz für einen Moment ablegen konnte. Dies erlaubte ihm, zu sich zu finden, sich mit sich selbst wieder zu verbinden und damit die richtige nächste Handlung einzuleiten, um die Aufgabe zu lösen. Manchmal durch Einbeziehung weiterer Punkte, die zuvor schlichtweg übersehen worden waren und folglich nur eine schnelle Teillösung ergeben hätten.

Geduld und präzise Kommunikation durch Benennen von Gedanken und Gefühlen kann dabei sehr unterstützen. Wir alle haben eine Ahnung, welch grandiose Quelle von Wissen und Weisheit in uns schlummert, die uns oftmals bisher nur in Notsituationen zu unfassbaren Möglichkeiten verhilft. Wie z.B. haben Sie letztlich doch noch ihre Termin-Deadline geschafft und war dazu wirklich all der Stress nötig?

Ich durfte meine Vorstellung von Professionalität, Souveränität und Perfektion aufgeben, sie stand konträr zu mir selbst. Ich führte meine Sitzungen fort und nach zwei Jahren schloss ich die Ausbildung ab.


Die eigene Verantwortung


Ich bekam eine ganz neue Beziehung zu mir und meinem Körper, begann mit ihm als Ganzes zu hören, zu sprechen, mich auszudrücken. Die früher rein sachlich-objektive Ebene durch mangelnden Selbstwert und gleichzeitigem Erwartungsdruck führte in der Arbeit mit Menschen zu Trennung. Weniger Zurückhaltung und zunehmende Präsenz mit Besinnung auf meine Qualitäten brachten wahre Wertschätzung, Geduld, Ruhe und absolutes Vertrauen in mich selbst und nicht für mein Schaffen in unterschiedlichen Rollen. Wir sollten uns bewusst machen, dass alles was wir tun, unser Verhalten in sämtlichen Bereichen, letztlich unser eigener Lebensstil, uns auch begleitet zu unseren Kollegen und Kunden. Kein Mental Training ändert etwas daran. Viele Seminare und Workshops vermitteln Tools zum Thema Rhetorik, Kommunikation, Präsentation usw., womit wir nur das „bestärken“, was wir als Verhalten kreiert haben, welches aber in keiner Weise unseren natürlichen Ausdruck wiedergibt und folglich kein wahres Selbstvertrauen aufbauen kann. Dies geschieht erst, wenn wir uns mehr und mehr unserer „Verkleidung“ entledigen.


Der Schlüssel zum Erfolg


Braucht es eine vergleichbare Ausbildung? Nun, ich habe die Erfahrung gemacht, dass der „Schlüssel“ zu unserem Sozialverhalten in uns selbst liegt. Zunächst muss man sich selbst kennen lernen. Dies erst erlaubt uns, wahrnehmen und unterscheiden zu können, wer und was wir sind und nicht sind. Das ist ein persönlicher Prozess, der Zeit braucht und Bereitschaft verlangt, sich seinen ureigenen Themen anzunehmen, mit sich ehrlich umzugehen, statt immer wieder Ausreden und Argumente zu generieren. Eine sehr ehrliche Betrachtung von sich und anderen, verbunden mit einfühlsamer Kommunikation der Wahrnehmung auf einer gleichwertigen Ebene kann Wunder bewirken, kann eine tiefere Form von zwischenmenschlicher Verbindung durch Vertrauen und Öffnung ermöglichen, ohne Schutz und selbstsüchtiges Agieren.

Soft Skills beziehen alle Mitarbeiter ein. Wird auch nur ein Kollege nicht mit einbezogen, kommt niemand wirklich voran – der übersehene Faktor Mensch ist der häufigste Grund für das Scheitern von ERP-Projekten weltweit! Die Führungsebene hat hierauf einen oft unterschätzten, tatsächlich aber enormen Einfluss. Der Weg ist das Ziel, jeden Mitarbeiter einzubeziehen, und erst beim Verstehen seiner Motivation und seiner Fähigkeiten, weitere Schritte und Konsequenzen einzuleiten. Das „gute Betriebsklima“ ist eine Bestätigung für gelebtes, wohlwollendes und offenkundiges Miteinander über alle Hierarchieebenen.

Durch das wissenschaftliche Verständnis ist unsere Welt entmenschlicht worden. Der Mensch steht isoliert im Kosmos da.

von Carl Gustav Jung

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